
“We hope to get through this region in a few days, and are camped here for a while to arrange for the return of the peons, who are anxious to get back, having had enough of it – and I don’t blame them.“
Die Moskitos nervten ihn wirklich gewaltig. Daran ließ Percy Harrison Fawcett, Offizier der Royal Artillery (außer Dienst) und Kartograph, in dem Ende Mai 1925 am Rio Cululene mitten im brasilianischen Regenwald verfassten Brief an seine daheimgebliebene Ehefrau keinen Zweifel. Und doch war er zuversichtlich, was das Ziel der Reise betraf, das für all diese Strapazen entschädigen sollte:
“You need have no fear of any failure.“
Hoffnungsvoll, beinahe beschwörend klingen die letzten Worte seines Briefs. Es sollte sein letztes Zeugnis überhaupt bleiben. Hier, am Dead Horse Camp (benannt nach seinem fünf Jahre zuvor an dieser Stelle verendetem Pferd), Lat 110 43′ S – 540 35′ W (oder anderswo – wie der Journalist David Grann mit Hilfe ihm von der Familie zur Verfügung gestellter Notizen Fawcetts herausfand, legte der offenbar falsche Fährten), verliert sich am 29. Mai 1925 jede Spur der Expedition. Fawcett, sein Sohn Jack und dessen Freund Raleigh Rimmel hatten sich zuvor von den angeheuerten einheimischen Trägern getrennt und ihren Weg allein fortgesetzt. Hier, in der seinerzeit weitgehend unerforschten Mato Grosso-Region Brasiliens verschwanden die drei Briten in diesem namengebenden “Thick Bush”, ohne je wieder gesehen zu werden – und doch sind sie, ist ihr Vermächtnis selbst 100 Jahre später noch immer erstaunlich präsent: Fawcetts Verschwinden auf der Suche nach einer im Dschungel verborgenen mythischen Stadt ist längst Archetypus geworden und die Vorstellung von untergegangenen Zivilisationen zum festen Topos in der Popkultur.
Geboren im August 1867 und aufgewachsen mit dem Pioniergeist viktorianischer Tradition, wird Fawcett in der Berichterstattung heute wie gestern meist irgendwo zwischen kolonialistischem Entdecker und tragischem Helden verortet: ein elterlicher Haushalt, alter (allerdings verarmter) Yorkshire-Adel, der Royal Geographic Society (Vater) und Okkultismus (Mutter) zusammenbrachte, es aber an Wärme vermissen ließ, Militärlaufbahn (Royal Military Academy) und schließlich, ab 1886, Dienst als Leutnant der Royal Artillery. Mit der Armee kommt Fawcett herum: Hongkong, Malta, Ceylon. Das hinterlässt Eindruck, er nimmt die Gelegenheit eines Vermessungs- und Kartographiestudiums mit der Royal Geographic Society wahr – und wird, inzwischen zum Leutnant befördert, für den Secret Intelligence Service als Landvermesser in Marokko tätig. Es folgen, 1903-1906, drei Jahre Dienst mit dem Kriegsministerium in Cork, die Fawcett als Major beendet.
1906 dann schließlich die erste Reise nach Südamerika. Wieder als Vermesser, dieses Mal für die Royal Geographic Society. Die hatte sich in den Grenzstreitigkeiten zwischen Bolivien und Brasilien (befeuert durch den mit dem Aufschwung der Automobilindustrie steigenden Kautschukbedarf) als neutraler Vermittler angeboten, um die Grenzregion zu kartieren und den genauen Grenzverlauf festzulegen. Insgesamt unternimmt Fawcett bis 1924 – unterbrochen vom freiwilligen Einsatz in Flandern während des Ersten Weltkriegs, was ihm einen Distinguished Service Order und die Beförderung zum Oberstleutnant einbringt – sieben solcher Vermessungsexpeditionen in Südamerika. Dass die für seine Begleiter selten Spaziergänge waren, lässt eine Notiz der Royal Geographical Society erahnen, die Fawcett attestiert immer noch ein bisschen weiterzugehen als die meisten anderen für möglich oder angemessen halten würden.
In dieser Zeit kartiert er im Auftrag Boliviens auch einen Teil der Grenze mit Peru sowie den oberen Verlauf des Río Beni in den Anden, bevor er weitere Reisen in Zentralbolivien unternimmt. Schon auf Ceylon hatte er sich zum Forscher berufen gefühlt, soll dort Gerüchten über verborgene Schätze nachgegangen sein und antike Ruinen erkundett haben. In Südamerika schien er nun erst recht Rudyard Kiplings (mit dem er bekannt gewesen sein soll) Gedicht “The Explorer” von 1898 (das er im Expeditionsgepäck dabei gehabt haben soll) zu folgen:
“Something hidden. Go and find it. Go and look behind the Ranges -Something lost behind the Ranges. Lost and waiting for you. Go!“
Neben kryptozoologischen Beobachtungen von Riesenanakondas, gigantischen Spinnen und doppelnasigen Hunden, die er nach Hause telegrafierte (was dort mit zurückhaltender Skepsis quittiert wurde), begann Fawcett hier auch seine Ideen über jene “vergessene Stadt” zu entwickeln, die er “Z” nannte und die Zeugnis einer unbekannten Hochkultur irgendwo im Mato Grosso sein sollte. Ein inzwischen als “Manuscrito 512” einschlägig bekanntes Dokument in der Nationalbibliothek von Rio de Janeiro dürfte seinen Entdeckergeist dabei gehörig angeheizt haben. Es berichtet von der vermeintlichen Entdeckung einer antiken Stadt in griechisch-römischem Stil durch eine Gruppe portugiesischer Abenteurer im 18. Jahrhundert und hatte neben Fawcett auch bereits Richard Francis Burton in seinen Bann geschlagen. Freilich verschweigt es die exakte Position der mysteriösen Stadt und bleibt auch sonst so sehr im Vagen, dass man gehörig Zweifel an der Authentizität des Berichts anmelden darf. Aber Fawcett hatte angeblich noch ein weiteres As im Ärmel: Ein steinernes Idol, von dem ihm ein Medium bestätigte, dass sein Herkunftsort nichts Geringeres als das sagenumwobene Atlantis sei.

Zeichnung: B. Fawcett, nach: P. H. Fawcett & B. Fawcett, Exploration Fawcett (New York 1953)
Die Figurine ist schlicht, aber der Blick auf den bärtigen kleinen Mann mit Hut und der hieroglyphenverzierten Tafel vor der Brust lässt einen doch eher den Kolleginnen und Kollegen des British Museum zustimmen, denen Fawcett das Kleinod vorgeführt hatte – und die die Figur für eine Fälschung hielten. Dass er sich damit nicht zufriedengeben konnte, versteht sich von selbst. Hatte er das gute Stück doch von Henry Rider Haggard bekommen (der es wiederum in Brasilien erworben haben wollte). Eben jenem Haggard, der als Autor exotischer wie kolonialistischer Abenteuerromane Bekanntheit und Ruhm erlangt hatte, wie beispielsweise Geschichten um den Großwildjäger Allan Quatermain, die in Fawcetts Jugendzeit sehr populär waren.
Auch die Nähe zu einer eher esoterisch geprägten Weltanschauung zeigt sich bereits in seiner Ceyloner Zeit, als Fawcett dort die Bekanntschaft von Helena Petrovna Blavatsky, illustre Okkultistin und maßgebliche Stichwortgeberin der modernen Theosophie, macht (sein älterer Bruder Edward hatte sie bei den Recherchen für ihre “Secret Doctrine” unterstützt). In Fawcetts Vorstellung war “Z” eine antike Ruinenstätte, die es fraglos mit den monumentalen Bauten der Maya und Inka aufnehmen konnte – John Lloyd Stephens und Frederick Catherwoods Berichte aus den 1840er Jahren von im Dschungel überwucherten Tempeln und Pyramiden in Mexiko, Guatemala und Honduras waren ihm fraglos bekannt und auch die (Wieder)Entdeckung Machu Picchus durch Hiram Bingham lag kaum zehn Jahre zurück. In einer Zeit also, in der das Interesse an den historischen Monumenten der “Neuen Welt” nicht länger vom Goldrausch der Konquistadoren bestimmt wurde und wissenschaftlicher Neugier gewichen war, wollte auch Fawcett einen Beitrag leisten – und gar noch einen Schritt weitergehen. Seine Stadt “Z”, für die er ein Alter von 11.000 Jahren annahm, war mehr als ein archäologisches Rätsel – für Fawcett war sie ein spirituelles Zentrum, das Vermächtnis einer untergegangenen Zivilisation: Sie sei ein Außenposten von Atlantis gewesen und – ganz in theosophischer Tradition – ein Ort verborgenen Wissens, von dem die gesamte Menschheit profitieren würde.
Obwohl er die Eingeborenen mit einerseits durchaus interessiertem Wohlwollen beschreibt, sich für ihre Sprache und Gebräuche interessiert und in seinen Berichten auch deren Ausbeutung nicht ausspart, kann er doch der Falle nicht entgehen, sie mit dem kolonialistisch-eurozentrischen Blick seiner Zeit alles andere als gleichwertig zu betrachten. Die Indianer seien, hält er fest, fügsame Menschen, die sich leicht zähmen ließen. Oder, wo das nicht zutrifft, abstoßende Kannibalen. Eine dritte, ihm besonders robust und edel erscheinende Gruppe, müsse “zivilisierten Ursprungs” und also ein weiterer Beleg der von ihm gesuchten Hochkultur sein. Wo er diesen Ursprung historisch verortet, daran lässt schon die Atlantis-Verknüpfung kaum einen Zweifel. Und er begründet das mit Gerüchten über angeblich “weiße Indianer”, die, wie ihm zu Ohren gekommen sei, immer wieder im Amazonas gesichtet würden. In seinen Aufzeichnungen beschreibt Fawcett diese mutmaßlichen Nachkommen der aus Atlantis Geflüchteten als den indigenen Amazonasstämmen überlegen. Sie allein, ist er überzeugt, wären zu den kulturellen Höchstleistungen in der Lage, für die die vergessene Stadt “Z” ihm zum Sinnbild geworden ist. Und auch wenn die Eingeborenen ihm wiederholt versichern, dass, wenn es solche Stätten dort im Dschungel gäbe, ihre eigenen Vorfahren diese errichtet hätten, erscheint ihm das doch recht zweifelhaft.
Mit der Expedition im Frühjahr 1925, die seine letzte werden sollte, begibt Fawcett sich also nicht nur auf eine archäologische, sondern vor allem auch esoterische Entdeckungsreise. Vielleicht taugt das Verschwinden Fawcetts und seiner beiden Begleiter auch deshalb so sehr zur Mystifizierung, weil es eine so große Projektionsfläche bietet – von abenteuerlichem Draufgängertum und forschendem Entdeckerdrang bis hin zur spirituellen Sinnsuche – und weil so viele Erwartungen, so viele Möglichkeiten damit verbunden sind. Als etwa vier Monate nach Beginn der Expedition die Nachrichten schlagartig versiegten (immerhin mehr als 40 Millionen Leserinnen und Lesern konnten den Depeschen aus dem Dschungel folgen, für die ein Konsortium nordamerikanischer Zeitungen die Rechte erworben hatte), ist die Verunsicherung groß, aber Fawcetts Wunsch entsprechend, wartet die Royal Geographic Society weiter ab. Mit der Geheimniskrämerei, seine Route vor möglichen Konkurrenten zu verschleiern, hatte Fawcett es aber auch potentiellen Rettern nicht eben leicht gemacht. Erst als persönliche Gegenstände der Expedition im Besitz von Indios auftauchen, wird in London eine Rettungsexpedition ausgerüstet, die 1928, angeführt von George M. Dyott aufbricht. Doch geraten die Männer selbst in Schwierigkeiten, berichten von ernsten Problemen mit den Eingeborenen und dass sie nur knapp dem Tod entkommen wären. Fawcett hingegen hätte weniger Glück gehabt: Seine Expedition sei im Juli 1925 durch die Hand feindseliger Indianer umgekommen. Einen greifbaren Beweis allerdings bleibt Dyott schuldig.
Wer Fawcett da noch nicht aufgegeben hatte, konnte neue Hoffnung schöpfen als Anfang der 1930er Jahre ein Schweizer Trapper von der Begegnung mit einem bärtigen Mann im Dschungel (weit entfernt von dessen letzter bekannter Position allerdings) berichtet, der sich ihm, offenbar ein Gefangener der ihn begleitenden Indios, als Fawcett zu erkennen gegeben haben soll. Die weitere Suche nach dem geheimnisvollen Mann aber bleibt, wieder, erfolglos. Es sollte nicht die letzte Suchmission bleiben, aber nur wenige kehrten mit Ergebnissen zurück (und einige nicht einmal das). In den Folgejahren tauchen zwar weitere Ausrüstungsgegenstände wie ein Theodolit, der nachweislich Fawcett gehört hatte, und später gar auch sein Siegelring auf, von dem Oberstleutnant selbst, seinen Begleitern oder deren Überresten aber fehlt weiterhin jede Spur.
Die werden (sieht man einmal von der Schilderung eines Schrumpfkopfes einige Jahre zuvor ab, der irgendwie wie Fawcett ausgesehen habe oder ausgesehen haben könnte), erst 1951 publik als der brasilianische Anthropologe und Indio-Aktivist Orlando Villas Bôas ein Skelett präsentierte, das ihm von den Kalapalo-Indianern übergeben worden sei. Eindeutig und zweifelsfrei hätten Analysen die Gebeine dem verschollenen britischen Abenteurer zuordnen lassen. Die Bestürzung musste allerdings nicht lange währen, denn weitere unabhängige Studien ergaben, wiederum eindeutig, dass es sich keineswegs um Fawcetts Knochen handelte. Was schließlich auch die Kalapalo bestätigen, die weil sie dessen Expedition zuletzt beherbergt hatten, seither zum Anlaufpunkt aller Suchmannschaften geworden waren. Um endlich wieder Ruhe einkehren zu lassen, hatten sie die Überreste eines früheren Häuptlings als jene von Fawcett ausgegeben. Dabei hatten die Kalapalo, wie sie nun wiederholt und vehement betonten, mit dem Verschwinden der Gruppe nichts zu tun. Bereits 1931, lange vor Villas Bôas’ Entdeckung also, dokumentierte eine vom Penn Museum entsandte Expedition, was die Indios über ihre letzte Begegnung mit Fawcett berichteten – und was, mehr als fünf Jahrzehnte später von der Ethnologin Ellen Basso aufgezeichnet, Eingang in die Oral History des Stammes gefunden hatte: Die Warnungen vor feindlichen Stämmen ignorierend, wären Fawcett und seine beiden Begleiter nach einer Rast bei den Kalapalo Richtung Osten weitergezogen. Fünf Tage lang wäre der Rauch ihrer Lagerfeuer noch auszumachen, und Kalapalo-Jäger hatten auch die Spuren dieser Lager entdeckt – die weißen Männer selbst aber nicht wieder gesehen.
Diese Ungewissheit ist es, die im Kern die weitere Rezeption Fawcetts ausmacht, denn sie eröffnet die Möglichkeit, sich nicht mit seinem plötzlichen Ableben abfinden zu müssen. Sie ist der fruchtbare Boden, auf dem Gerüchte keimen und schließlich Mythen ranken: Was, wenn die Männer tatsächlich ihr Ziel, die geheimnisvolle Stadt “Z” erreicht hätten – und dort geblieben wären, bei den Nachkommen jener Atlantis-Flüchtlinge, die sie einst errichtet hatten? Oder was, wenn sie ein neues Leben fernab der Zivilisation begonnen hätten und Fawcett inzwischen Häuptling eines Eingeborenenstammes wäre? Vielleicht hatten die Männer ja nie vor, nach England zurückzukehren, sondern von Anfang an den Ausstieg und die Gründung einer theosophischen Kommune im Dschungel geplant? So abwegig das klingen mag, all diese Szenarien sind in der Vergangenheit in der Tat in Erwägung gezogen und vorgeschlagen worden. Sogar ein vermeintlicher Nachkomme Jack Fawcetts wurde ausfindig und der Öffentlichkeit präsentiert: Ein hellhäutiger 17jähriger Indio namens Dulipé – dessen außergewöhnliche Erscheinung allerdings, wie sich schnell herausstellte, einer Form von Albinismus geschuldet war.
Die Spekulationen wurden im Laufe der Jahre zunehmend fantastischer, die Suche Fawcetts und die Suche nach Fawcett esoterisch aufgeladen. Er hätte nicht nur seine verschollene Stadt, sondern dort auch Erleuchtung gefunden, hieß es nun, oder gar gleich das Tor zu einer anderen Dimension. Der Grenzgänger Fawcett, der selbst keine Berührungsängste mit dem Okkultismus kannte, wurde in der popkulturellen Vereinnahmung auch zur spirituellen Ikone. Eine Ergänzung der Rolle des archetypischen “Explorers”, die ihm (und man wird annehmen dürfen, dass ihm das so unangenehm nicht war) schon zu Lebzeiten zugestanden worden war. Daran hatte nicht zuletzt die mediale Berichterstattung über seine Expeditionen und Vermessungseinsätze ihren Teil, aber auch eine Reihe öffentlicher Auftritte und Vorträge. Von denen einer, über das Huanchaca-Plateau in Bolivien, vor der Royal Geographic Society im Februar 1911 Eindruck auf Arthur Conan Doyle (auch der geistige Vater Sherlock Holmes’ zählte neben Kipling und Haggard zu den Autorenbekanntschaften Fawcetts) machte. Doyles im Jahr darauf erschienener Roman über eine von Urtieren bevölkerte “Vergessene Welt” auf einem Plateau im südamerikanischen Dschungel hat offenkundig sehr von diesem Austausch gezehrt. Die Inspiration war offenbar gegenseitig, in seinen Tagebuchnotizen scheint Fawcett ein solches Szenario jedenfalls immerhin für denkbar zu halten (auch wenn Uneinigkeit darüber zu herrschen scheint, ob er nun als Vorbild für die Romanfigur des Professors oder jene Lord Roxtons oder keine von beiden diente):
“Monsters from the dawn of Man’s existence might still roam these heights unchallenged, imprisoned and protected by unscalable cliffs.“
Fawcetts jüngster Sohn Brian hat diese Tagebücher und Notizen aus dem Nachlass des Forschers zusammengestellt und, ebenso wie den Entwurf eines bis dahin unveröffentlichten Manuskripts über dessen Expeditionen (die letzte freilich allein aus den aus dem Dschungel übersandten Briefen, Felddepeschen und Journalen rekonstruiert), in den 1950er Jahren posthum publiziert. Sie festigen die Entdeckerbiographie, zeichnen Fawcett aber auch als einen geradlinig auf ein einziges Ziel fixierten Mann. Selten finden sich Beschreibungen zu Land und Leuten oder ausführlichere Beobachtungen der Pflanzen- und Tierwelt im noch wenig erschlossenen Amazonas jener Zeit (die auch jenseits von Riesenanakondas und gigantischen Spinnen sicher wissenschaftlich interessant gewesen wäre). Fawcetts Interesse galt offenbar vordergründig vor allem zunächst seinem Kartierungsauftrag bzw. später der Suche nach “Z”; dem hatte sich alles andere unterzuordnen.

In der späteren Auseinandersetzung mit Fawcetts Forscherpersönlichkeit steht dann meist auch, untrennbar mit seinem Verschwinden verknüpft, ebendiese Suche zwischen Zielstrebigkeit und Obsession im Fokus. Und die Geschichte seiner verschollenen Expedition wird Gegenstand einer reichhaltigen medialen Aufarbeitung: Angefangen bei den Berichten der Rettungsexpeditionen von Dyotts “Manhunting in the Jungle” (1930) und dem “Brazilian Adventure” (1933) von Peter Fleming oder Robert Churchwards Beschreibung derselben Dschungelreise in dessen “Wilderness of Fools” (1936) bis hin zu unzähligen Einträgen in einschlägigen Lexika und Sammelwerken über die “Großen Entdecker”, Dokumentar- und Spielfilmen (Dyotts Buch beispielsweise wird 1958 von Hollywood verfilmt). Immer wieder überstrahlt hier der Mythos den Mann. Der Amazonas, in den Fawcett (aber natürlich auch die Rettungsexpeditionen) wagemutig vordringt, wird als feindliche Wildnis charakterisiert, ein weißer Fleck auf der Landkarte und eine Black Box, von der niemand weiß, was ihn dort erwartet – weshalb alles möglich scheint: gefährliche Ungeheuer, feindselige Kannibalen, und verschollene Königreiche, die ein Zivilisationsverständnis transportieren, in dem für die den Regenwald bewohnenden und bewirtschaftenden indigenen Gemeinschaften nur die Rolle als Bedrohung, Träger oder Hinweisgeber bleibt. Auch Fawcett selbst wird so zum austauschbaren Ideal des spätviktorianischen männlichen Entdeckers, der als Eroberer unbekannte Welten erschließt. Seine früheren Leistungen und Expeditionen werden vor allem als Ausweis seiner Zuverlässigkeit gewürdigt und er so als glaubwürdiger Kronzeuge für die Existenz ganzer im Urwald verborgener Städte, untergegangener Zivilisationen samt Geheimwissen und Hochtechnologie inszeniert. Seine eher spirituellen Interessen an diesen Themen werden dabei wahlweise als exzentrische Überspitzung oder gegen die im wissenschaftlichen Establishment vorherrschende Lehrmeinung zu verteidigende Überzeugung verklärt. Das wirkt bis in seine Fiktionalisierung hinein, denn wenn Fawcett auf Tim und Struppi (Hergé, Der Arumbaya-Fetisch, 1935) oder Indiana Jones (Rob MacGregor, Indiana Jones und die Herren der toten Stadt, 1991) trifft, hat er die verborgene Stadt und deren Bewohner tatsächlich gefunden und ist dann – freiwillig oder nicht – dort geblieben.
Einer größeren Öffentlichkeit wird Fawcetts Geschichte im Jahr 2005 mit einem Beitrag im New Yorker, “The Lost City of Z”, aus der Feder von David Grann wieder ins Bewusstsein gerufen. Grann war für seine Reportage auf den Spuren der Expedition nach Brasilien gereist und hatte auch die Kalapalo besucht. Mit Hilfe deren Erzählungen und Fawcetts Unterlagen aus dem Nachlass der Familie sowie den Archiven der Royal Geographic Society entwirft er in seinem 2009 zu einem Buch gleichen Titels erweiterten Reisebericht ein Bild von Fawcett, das diesen als Suchenden charakterisiert. Sicher kein nüchterner Wissenschaftler, aber eben auch kein Fantast, war seine Obsession für die titelgebenden Stadt auch Ausdruck der Sinnsuche in einer sich zwischen Spiritualität und Elektrifizierung emanzipierenden Moderne, die allmählich auch das Ende der Zeit klassischer Entdeckungsreisen (und Entdeckungsreisender) einläutete. Fawcett war wirklich überzeugt, dass es diese Stadt “Z” geben musste. Er wollte sie finden. Um jeden Preis. Er wollte sie wirklich finden. Bei allem Drama, das seiner Expedition anhaftet, ist es vielleicht gerade dieses Scheitern, in dem wir uns besonders mit ihm verbunden fühlen, denn es zeigt uns den Menschen hinter dem Mythos.
Mit seinem Buch (das 2016 mit Sienna Miller und Charlie Hunnam als Nina und Percy Fawcett verfilmt wurde) sucht Grann aber auch Fawcetts Idee von im Amazonas verborgenen archäologischen Monumenten zu rehabilitieren. Dort im Regenwald trifft der Reporter auch auf Michael Heckenberger, Ethnologe und Archäologe an der University of Florida, der ihn auf eine Exkursion mitnimmt und einen auf den ersten Blick unspektakulär anmutende Vertiefung im Wald zeigt. Doch die entpuppt sich als Teil eines riesigen kreisförmigen Grabensystems. Eines von vielen vergleichbaren dort am Oberlauf des Rio Xingu, wie Heckenberger ausführt. Sie alle umschlossen Siedlungen, die, jeweils etwa zwei bis drei Kilometer voneinander entfernt, durch rechtwinklig angelegte Straßen und Dämme miteinander verbunden waren. Mehr als zwanzig solcher Dörfer und Städte sollen es einst gewesen sein, die es mit Einwohnerzahlen von zwei- bis fünftausend problemlos mit europäischen Städten dieser Zeit aufnehmen konnten. Vor ungefähr 1.500 Jahren war hier ein komplexes Siedlungssystem, Kuhikugu, geschaffen worden, das bis vor etwa 400 Jahren bestand.
Fawcett notierte Funde verzierter Keramikscherben und zeigte sich beeindruckt von den ausgeklügelten Fischfangmethoden der Indios und deren Kultivierung von Überschwemmungsebenen für den Feldbau, und er deutete all diese Errungenschaften als Nachwirkungen einer einst hier beheimateten Hochkultur. Die Tragik Fawcetts liegt darin, dass er aus den richtigen Beobachtungen die falschen Schlüsse zog; auch weil ihm das letzte Puzzleteil fehlte: Die Bilder der monumentalen Ruinen von Maya und Inka im Kopf hatte er kolossale Pyramiden und Tempel erwartet und nicht damit gerechnet, dass die tatsächlich einst hier bestehenden großen Siedlungen aus Mangel an Stein als Baumaterial aus Holz und Erde errichtet worden und in der Zwischenzeit erodiert und verrottet waren. Er hatte sich täuschen lassen von den Erzählungen der Konquistadoren und Abenteurer früherer Jahrhunderte, die Säulen und Bögen aus Stein im Dschungel erblickt haben wollten (und sich dabei womöglich selbst in bizarren Verwitterungsformen getäuscht hatten). Und er war dem Irrtum seiner Zeitgenossen erlegen, die verteilt im Wald lebenden kleinen Indianerstämme als Urzustand hinzunehmen – und nicht etwa als Folge des Kontakts mit früheren europäischen Kolonisatoren (die ihrerseits noch von großen Siedlungen berichteten).
Vielleicht sollten wir diesen Blick für Veränderung als ein Vermächtnis Fawcetts annehmen, als Plädoyer, genauer hinzuschauen und diesem Wandel nachzuspüren. Denn eine Stelle ist mir bei der erneuten Lektüre von Granns Bericht in besonderer Erinnerung geblieben. Dort beschreibt der Reporter, wie er mit einem lokalen Guide an einer Stelle am Rio Manso vorbeifährt, an der Fawcett 80 Jahre zuvor im Dickicht von seinen beiden Begleitern getrennt worden war. Statt dichten Regenwalds aber zieht vor dem Autofenster eine weite Ebene vorüber (“… the terrain looked like Nebraska …”) vorüber. Auf die Frage, wo denn der Wald sei, antwortet Granns Guide lediglich: Weg.
