
Da bin ich dieses Mal ziemlich spät dran mit dieser kleinen Archäologie-Rückschau auf den vergangenen Monat. Was nicht daran gelegen hätte, dass zu wenig zu berichten wäre. Ganz im Gegenteil – denn natürlich ist auch im Juni wieder reichlich Archäologisches in den Nachrichten gewesen. Allerdings ist der Frühsommer auch Vortragssaison – und dass Vergangenheit-Jens es für völlig okay hielt, Anfang Juli gleich vier Vortragsterminen in Folge zuzusagen, hat Gegenwarts-Jens dann doch vor die ein oder andere Herausforderung gestellt. Der langen Rede kurzer Sinn: Spät kommt sie, die aktuelle Nachlese – doch sie kommt. Allerdings hat mir das doch auch ein wenig zu denken gegeben und ich trage mich deshalb gerade mit dem Gedanken , diese Zusammenschau künftig vielleicht eher quartalsweise hier in den Blog einzubinden. Hm, was meint Ihr?
Blogschau
Nun gut, gehen wir trotzdem erst einmal die Liste für dieses Mal durch. Von all den Archäologie-Neuigkeiten, die im Juni die Runde machten, war eine dann doch so spektakulär spannend, dass ich sie etwas ausführlicher an dieser Stelle würdigen wollte: Gleich zwei Analysen haben nämlich nun dazu beitragen können, dass den bisher zwar genetisch bekannten, aber anatomisch nur spärlich fassbaren Denisova-Menschen nun endlich auch ein Gesicht zugeordnet werden konnte – und wie sich herausstellt, auch noch eines, das nicht einmal unbekannt ist.

Nachrichtenticker
Dass Archäologie und Geschichte mehr als der Blick in die Vergangenheit und in der Tat gegenwarts- und zukunftsrelevant sind, betonen wir ja immer wieder oft und gern. Im Guardian erschien dieser Tage ein Beitrag, der das sehr schön illustrieren konnte: Was mit auf einer alten Karte Ecuadors aus dem 18. Jahrhundert eingetragenen Bewässerungslagunen aus der Vor-Inka-Zeit begann, hat nach Rekonstruktion und Wiederbelebung des komplexen Wassermanagementsystems der Paltas-Kultur die Wasserverfügbarkeit in der trockenen Catacocha-Region offenbar deutlich steigern können.
Zu den vielgepriesenen Errungenschaften der Neolithisierung gehört neben der verläßlichen Nahrungsproduktion auch die Ansiedlung in zunehmend größeren Dorf- und schließlich städtischen Gemeinschaften. Dass das dauerhafte Zusammenleben auf engem Rauch auch eine ganze Reihe manchmal weniger angenehmer Nebeneffekte mit sich brachte, ist ebenso hinlänglich bekannt. Eine Studie von Forschenden aus den USA konnte nun zeigen, dass Bettwanzen sich vor etwa 13.000 schlagartig vermehrten – gerade also, als unsere Vorfahren begannen, sesshaft zu werden. Das könnte, so die Schlussfolgerung der Autorinnen und Autoren darauf hindeuten, dass ausgerechnet Bettwanzen zu den ersten “städtischen” Schädlingen gehörten, mit denen wir es zu tun bekamen.
Im Zuge der europäischen Kolonisierung Australiens sind im 19. Jahrhundert gut 95% der ursprünglichen Box-Gum-Eukalyptuswälder in New South Wales vernichtet worden, was das örtliche Ökosystem nachhaltig prägte. In einem indigen geführten Programm setzten First Nations im Winter und Frühling 2023 sog. cultural burning ein, bei dem kontrollierte Brände zur Landschaftspflege eingesetzt werden. Unter indigenen Gemeinschaften hat das eine lange Tradition – als Teil moderner ökologischer Bestrebungen kann es, wie die das ökologisch-partizipative Programm begleitende Forschung zeigt, maßgeblich zur Wiederherstellung stark dezimierter Ökosysteme beitragen.
Der pazifische Inselstaat Tuvalu steht exemplarisch für die dramatischen Folgen des Klimawandels: steigende Meeresspiegel und zunehmende Extremwetterereignisse führen nicht dort langfristig nicht nur zu Verlust von Land und Lebensgrundlage der Bevölkerung, sondern auch deren kulturellen Erbes. Gemeinsam mit der Rising Nations Initiative arbeiten Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Archäologischen Instituts deshalb schon seit einiger Zeit daran, das materielle und immaterielle Kulturgut dieser Inseln und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner im Tuvalu Digital Repository for Cultural Heritage zu dokumentieren. Beim Berlin Climate Mobility Forum wurde dieses Projekt im Juni nun erstmals näher vorgestellt.
Plot twist: Könnte der gefürchtete “Fluch des Pharao” am Ende womöglich gar ein Segen sein? Aspergillus flavus ist ein Schimmelpilz, der unter anderem Bekanntheit erlangt hat, weil er über Tausende von Jahren in versiegelten Grabkammern überleben und deshalb auch archäologischen Teams immer wieder einmal gefährlich werden kann (prominentestes Beispiel dürfte wohl sein Vorkommen im Grab TutanchAmuns sein, dasmit einigen Todesfällen unter der Grabungsmannschaft in Verbindung gebracht wird). Aber vielleicht wohnt ja doch auch Gutes in ihm, denn eine Studie unter der Leitung der School of Engineering and Applied Science der University of Pennsylvania konnte nun zeigen, dass eine von diesem Pilz produzierte Substanz offenbar wirksam in der Behandlung von Leukämien zum Einsatz kommen könnte.
Aus Çatalhöyük in der heutigen Türkei, sind Ende Juni ebenfalls neue aDNA-Ergebnisse veröffentlicht worden. Die scheinen darauf hinzudeuten, dass Haushalte in jener neolithischen Mustersiedlung matrilinear organisiert waren, d.h. Personen, die im selben Haus lebten (und dort begraben wurden),über die mütterliche Linie miteinander verwandt waren. Frauen blieben meist in ihrem Herkunftshaus, während Männer häufiger in andere Haushalte “einheirateten”. Im Laufe der Zeit schien sich das aber zu ändern – spätere genetische Muster zeigen Haushaltsgemeinschaften, in denen nicht mehr die biologische Verwandtschaft ausschlaggebend für das Zusammenleben ist, sondern andere, soziale Regeln eine größere Rolle zu spielen scheinen.
Für Freundinnen und Freunde hübscher Keramik-Ensembles gab es im Juni fantastische Nachrichten aus San Giuliano in Italien: In der dortigen Nekropole im Regionalpark Marturanum nahe Barbarano Romano ist nämlich ein wie es scheint intaktes, also unberührtes etruskisches Grab aus dem späten 7. Jahrhundert v. Chr. geöffnet worden. Und die veröffentlichten Fotos zeigen eine beeindruckende Sammlung vielfältiger Keramikgefäße.
Den Kolleginnen und Kollegen des Österreichischen Archäologischen Instituts an dieser Stelle schließlich auch noch herzliche Glückwünsche zum 130jährigen Forschungsjubiläum in Ephesos in der heutigen Türkei!

Alarmierend ist hingegen eine Meldung aus Science, derzufolge die massiven Kürzungen der US-Regierung im Wissenschaftsbereich, insbesondere entsprechender Fördermittel der National Science Foundation, archäologische Forschung innerhalb der USA und von US-Kolleginnen und -Kollegen ernsthaft an den Rand der Existenzkrise gebracht haben und langfristig unvorhersehbar gefährden.
Leseecke
Und noch einmal Bewässerungssysteme, dieses Mal der Moche und Chimú im Norden Perus – die einmal mehr im Angesicht aktueller Klima- und Umweltveränderungen zuverlässig die Landwirtschaft in der Region sicherstellen helfen. Wie sehr solche Kulturtechniken allerdings mit dem gesellschaftlichen Gefüge zusammenhängen, in dem sie einst entstanden sind und genutzt wurden, wird nach wie vor unterschätzt. Ein sehr lesenswerter Beitrag von Ari Caramanica von der Vanderbilt University im Online-Magazin “Sapiens” führt anschaulich vor Augen, dass alte Technik allein nicht ausreicht, wenn sie kulturell nicht entsprechend eingebunden wird.
Was verbinden wir mit dem Kultur-Begriff, was genau verstehen wir eigentlich unter “Kultur”? – In ihrem ebenso lesenswerten aeon.co-Essay wirft Sarah Newman, Archäologin an der University of Chicago, die berechtigte Frage auf, ob es sich dabei wirklich um ein rein menschliches Phänomen handelt – und ob wir, wenn es um die Diskussion von Kunst, Architektur, Werkzeuggebrauch, Lernprozesse und Wissenstransfer geht, allzu starre Speziesgrenzen nicht hinter uns lassen sollten.
Außerdem möchte ich an dieser Stelle auch die jüngst von Lorna-Jane Richardson in Public Archaeology (🔓) veröffentlichte Studie zur Aneignung archäologischer Inhalte in der rechtsextremen Szene Großbritanniens zur Lektüre empfehlen. Dort hat Richardson, ihrerseits Archäologin an der University of East Anglia, untersucht, wie die politische Rechte wissenschaftliche Inhalte aus der Archäologie, insbesondere aDNA-Daten manipuliert und instrumentalisiert, um rassistische Narrative und eine ethno-nationalistische Identitätspolitik zu legitimieren. Ein ebenso nachdenklich stimmender wie wichtiger Beitrag, der deutlich macht, dass Archäologie eben nicht unpolitisch ist, nicht unpolitisch sein kann und wir uns als Fachleute diesem Diskurs nicht entziehen können, sondern uns ihm ganz bewusst stellen müssen um eine Vereinnahmung und Verzerrung unserer Forschung entgegenzuwirken.
Einen sehr interessanten Beitrag zur Struktur von Tausch- und Kommunikationsnetzen liefern die Autorinnen und Autoren eines von The Conversation unter dem Titel “Men traded wares – but women traded knowledge: what a new archaeological study tells us about PNG sea trade” veröffentlichten Essays. Kurz gesagt, argumentieren Robert Skelly, Barbara Etschmann, Chris Urwin, Joël Brugger und Teppsy Beni hier, dass in Papua‑Neuguinea zwar Männer physische Waren wie z.B. Keramikgefäße über weite Distanzen zwischen den Inseln per Boot handelten, die Weitergabe von Wissen (die sich etwa in vergleichbaren Herstellungstechniken und Tattoo-Designs niederschlägt) aber offenbar durch Frauen erfolgte.
Mediathek
Die Felskunst von Murujuga im Nordwesten Australiens zählt mit ihren 40.000 Jahren zu den ältesten Zeugnissen (bekannten) menschlichen Kunstschaffens überhaupt – und ist offenbar massiv gefährdet. Ein Video-Report des Australia Institute Think Tanks dokumentiert eindringlich, wie saurer Regen, der durch die nahe gasverarbeitenden Industrie verursacht wird, diesem Kulturerbe zusetzt. Trotz Schutzstatus und internationaler Kritik wurde gerade eine Erweiterung des dafür verantwortlichen North West Shelf Gas-Projekts genehmigt. Mit womöglich noch dramatischeren Folgen für die Felsbilder vor Ort.

